Wie in den USA sollten Geschädigte auch bei uns gemeinsam Klage erheben können.

Elf Millionen Autos! Das stellt alle bisherigen Massenschäden in den Schatten. Massenproduktion beschert, falls etwas schiefläuft, massenhafte Schäden. Bisher gab es keinen Anlassfall in der produzierenden Industrie, an dem sichtbar wurde, was „massenhaft“ bedeuten könnte. Freilich, die Subprime-Krise, die 2008 eine Kernschmelze im Finanzsektor ausgelöst hat, dürfte das momentane VW-Desaster als geradezu behebbar erscheinen lassen:

Ein bisschen Rückruf ab 2016, ein, zwei Updates in der Software, und schon lächelt Volkswagen wieder. Die Werkstätten verdienen prächtig an der Masse der Rückrufe. Das belebt das Geschäft – und wer nicht manipuliert hat, der werfe den ersten Stein. Oder wie erklären wir, dass alle anderen Marken auf ebenso gute Abgaswerte kommen?

Subprime war da irgendwie viel weniger konkret. Man musste nachher stundenlange Dokus im Fernsehen konsumieren, um halbwegs zu verstehen, was da passiert war. Ein Auto hingegen kann man angreifen und riechen. Auch dann noch, wenn angeblich alle Schadstoffe herausgefiltert sind.

Regulierungen nützen

Jetzt sei angeblich die Frage, „wie wir die Bankprodukte, Autos und Waren bekommen, die wir wollen“, schreibt Harold James in seinem „Presse“-Gastkommentar (15. 10). Es stimmt nicht, dass Regulierungen nichts nützen. Der Katalysator und das Bleiverbot haben die Stadtluft wesentlich entlastet. Dasselbe haben Filter in Schloten getan. Werfen wir nicht die Flinte ins Korn: Vorschriften, selbst wenn sie da und dort umgangen werden, hält die Industrie durchaus ein.

Pikanter wird es bei der Frage, ob eine von der Industrie abhängige Politik überhaupt in der Lage ist, Vorschriften zu erlassen. Bei dem Ruf nach regulierenden Maßnahmen, den Professor James erhebt, können wir nur hoffen, dass der Regulierer unbeeinflusst genug ist, um dem Regulierten die Schrauben eng genug anzuziehen. Es müsste ein Rückkoppelungssystem geben, das der Industrie „sagt“, was sie produzieren soll. Und was los sein wird, falls sie dabei gröbere Manipulationen einsetzt.

Ohnmacht der Nachfrageseite

So ein Rückkoppelungssystem gibt es natürlich längst: Der Vertragspartner mag es gar nicht, wenn er von Rosstäuschern beschwindelt wird. Wer ein mangelhaftes Produkt erworben hat, kann dafür ein tadelloses oder sein Geld zurückfordern. Dieser Zusammenhang ist jedem Kind klar. Dass er bei Massenschäden nicht funktioniert, weil der erforderliche Aufwand in keinem Verhältnis zum angestrebten Rechtsfrieden steht, ist nicht einmal unserem Gesetzgeber klar. So entpuppt sich die angebliche Ohnmacht der Nachfrageseite gegenüber schädlichen Manipulationen der Industrie als bloßes Nachhinken. Der Gesetzesentwurf, der Gruppenklagen regeln soll, verstaubt in den aufeinanderfolgenden Regierungsabkommen. Die Industrie gelobt Besserung, zahlt aber nicht. Bei einem Anleiheschaden von 300 Millionen Euro schaffen es gerade einmal zehn Prozent der Geschädigten, ihren Anspruch überhaupt einzuklagen. Ihnen bietet die Industrie dann wiederum zehn Prozent ihres Schadens als Abfindung. Ein Prozent der Umsatzbeute für die Befriedigung von Unzufriedenen beiseitezulegen klingt nach keinem schlechten Geschäft. Ein Idiot unter den Mitbewerbern, wer es nicht ebenso machen würde.

Wie anders sähe das von Regulierungsbefürwortern ersehnte Anreizsystem aus, wenn Betroffene wie in USA gemeinsam Klage erheben könnten, in der automatisch jeder Mitbetroffene mitumfasst wäre, und an deren Ende auch noch Punitive damages (Strafschadenersatz) stünden: Kann es denn einen effektiveren Anreiz für Wohlverhalten geben?

Dr. Benedikt Wallner ist Rechtsanwalt in Wien

Quelle: DIE PRESSE, 22. OKTOBER 2015