KOMMENTAR von Benedikt Wallner.[1]

Bisher galt: Was nicht ausdrücklich verboten ist, das ist erlaubt. Mangels gesetzlicher Anordnung begründete das Nichttragen einer Motorradschutzkleidung kein Mitverschulden eines verletzten Motorradfahrers. Der Gesetzgeber – der schließlich auch Sicherheitsgurt und Sturzhelm vorschreibt – hat sich eben nicht aufgerufen erachtet, eine entsprechende Pflicht zum Tragen einer Unfallfolgen mindernden Schutzkleidung anzuordnen.[2]

Seit kurzem gibt es [3] nun aber ein „Motorradschutzbekleidungs-Mitverschulden“. Es verlangt vom Motorradfahrer das Anlegen einer Lederkombi oder einer Motorradschutzbekleidung mit Protektoren und wohl auch – zumal 80% der Verletzungshäufigkeit gerade im Bereich der Beine liegen [4] – von Motorradstiefeln! Der bei dem Unfall verletzte Motorradfahrer trug als Schutz lediglich seinen Sturzhelm, war mit maximal 100 km/h auf einer insgesamt nur fünf Kilometer langen Strecke von der Arbeitsstätte zurück nach Hause unterwegs und wurde völlig schuldlos von einem unvorsichtigen Alfa Romeo abgeschossen.

Was ist daran verkehrt, an besonders verletzungsexponierte Verkehrsteilnehmer das richterliche Signal zu senden: „Zieht’s euch was an“? Würde das der verständige Fahrer nicht schon aus Gründen des Selbstschutzes tun? Ich schon. Das Unbehagen rührt von woanders her. Betrachten wir eine kurz zuvor ergangene Entscheidung des zweiten Senats.[5] Dort war der beklagte Fahrzeuglenker in einer 30 km/h-Zone mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h unterwegs, als ein achtjähriges Kind von einer durch eine Hecke verdeckten Einfahrt überraschend auf die Straße lief, wodurch es zur Kollision kam. Einige hundert Meter vor der Unfallstelle war das Gefahrenzeichen „andere Gefahren“ und überdies eine Tafel mit der Aufschrift „Achtung spielende Kinder!“ angebracht. Der zweite Senat sah deswegen keine Sorgfaltsverletzung des Fahrzeuglenkers, weil nicht etwa rückblickend zu beurteilen sei, ob der Unfall bei einem anderen Verhalten wie etwa bei einer Fahrgeschwindigkeit von nur 20 km/h vermieden worden wäre. Relevant ist nur, welche Maßnahmen ausgehend von der Sachlage vor dem Unfall vorausschauend geboten waren, um die Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation zu vermeiden. Das ist nicht neu: Nach Kraftfahrzeugunfällen ist rückblickend in der Regel erkennbar, durch welche Maßnahmen der Lenker den Unfall doch noch hätte vermeiden können. Wenn diese Maßnahmen aber vor dem Unfall, also vorausschauend, nicht „nach den Umständen des Falles geboten“ waren, gilt der Unfall als unabwendbares Ereignis, obwohl er, objektiv betrachtet, abwendbar gewesen wäre.[6]

In beiden Entscheidungen geht es um Sorgfaltspflichten, aber eine, sagt der 2. Senat, ist für eingehalten zu halten, die andere nicht. Diejenige Sorgfaltspflicht, die eingehalten wurde (Schutzgut ist hier das Leben eines einsichtsunfähigen, spielenden Kindes), ist positivrechtlich normiert, sie steht in § 20 Abs 1 StVO:  Der Lenker eines Fahrzeugs hat die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen anzupassen. Im anderen Fall geht es um die Sorgfaltspflicht, die nicht eingehalten wurde (Schutzgut ist hier die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten): Ihr liegt nach Auffassung des 2. Senats keine Norm zugrunde, sondern vielmehr „das allgemeine Bewusstsein der beteiligten Kreise“. Es stimmt aber nicht, dass ihr keine Norm zugrunde liegt. Bloß ordnet die Gegenteiliges an. Beide Absätze des § 106 KFG (Abs 2, Sicherheitsgurt- und Abs 7, Sturzhelmpflicht) weisen nämlich folgende Besonderheit auf: „Die Verletzung dieser Pflicht begründet […] im Fall der […] Verletzung des Benützers durch einen Unfall ein Mitverschulden an diesen Folgen im Sinne des § 1304 ABGB. Das Mitverschulden ist so weit nicht gegeben, als der Geschädigte […] beweist, dass die Folge in dieser Schwere auch beim Gebrauch des Sicherheitsgurts [des Sturzhelms] eingetreten wäre.“[7] Wann und wann nicht ein Mitverschulden iSd § 1304 ABGB begründet wird, ist demnach positivrechtlich normiert. Insofern ist die Motorradschutzbekleidungs-Entscheidung falsch.

Da es für die Versicherungswirtschaft um viel Geld geht, und auch für die Protektorenindustrie, ist immer schon argumentiert worden, das Opfer treffe deswegen ein Mitverschulden, weil es sich selbst nicht ausreichend geschützt habe. Meistens freilich ohne Erfolg, denn man wusste bisher, woran man sich zu halten hatte: Der Verzicht auf das Tragen heller oder mit reflektierendem Material versehener Kleidung vermag für sich allein einen Mitverschuldensvorwurf nicht zu rechtfertigen.[8] Weil der Fahrradhelm für erwachsene Radfahrer gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, verneint der OGH ein Mitverschulden des normalen Fahrradfahrers, nur weil der keinen Helm trug.[9] Außer, es handelt sich um Rennradfahrer, die sich einem besonderen Risiko ausgesetzt hatten.[10]

Wie also konnte 2 Ob 119/15m geschehen? Leider heißt das Mitverschulden nur so, ist aber keins. Nach Kausalität und Adäquanz müssen wir zwar auch hier fragen, ganz so wie beim Verschulden auch. Angeblich wird der Verletzte den gleichen Regeln wie der Täter unterworfen.[11] Ganz den gleichen? Nein: ein rechtswidriges Verhalten des Geschädigten sucht man vergeblich. Vielmehr reicht es schon, dass der Geschädigte jene Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Teilnehmer in seiner Lage angewandt hätte, um eine Schädigung nach Möglichkeit abzuwenden.[12] Das Mitverschulden iSd § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Es genügt eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt.[13] Anders als im normalen Schadenersatzrecht wird also der Geschädigte auch dann im Vermögensvergleich schlechter abschneiden als bei einem Verhalten, wie es von ihm und seinesgleichen erwartet wird, wenn er keine Rechtspflicht verletzt hat. Mangels positiv statuierter Rechtsnormen, an denen man sein Verhalten ex ante orientieren könnte, wird das „Mitverschulden“ des Geschädigten so zum Glücksspiel.

Zum Beispiel: Was ist ein „Motorrad“, bei dessen Betrieb Fahrer (und Beifahrer?) Schutzkleidung tragen müssen, wenn sie im unverschuldeten Verletzungsfall vollen Ersatz erhalten wollen? Ist das eine Maschine auf 2 Rädern, mit der Geschwindigkeiten von 100 km/h gefahren werden können? Jeder Roller schafft das, und wegen der Automatik oft auch fantastische Beschleunigungswerte, wie man beim Ampelstart eines Rollers leicht beobachten kann. Die Gefahr der Verletzung im Falle eines Sturzes ist beim Roller gleich hoch (richtige Motorradfahrer würden sagen: sogar noch höher). Die Industrie bietet inzwischen „Roller“ bis 800 ccm an, die von Businesspeople bevorzugt werden, aber ohne weiteres mit den Fahrleistungen von richtigen Motorrädern mithalten. Der weltgrößte Hersteller hat sogar eine Baureihe im Programm, die für den Roller wie für das Strassenmodell exakt den gleichen Motor und das gleiche Chassis bis hin zur einheitlichen Reifendimension von 17‘‘ verwendet. Werden auch Rollerfahrer stets (!) Lederkombi und Stiefel tragen, selbst wenn sie nur 5 km von der Arbeit nach Hause unterwegs sind? Eher nicht. Der Vorteil des Großrollers liegt gerade darin, kein Motorrad zu sein! Da hat sich der OGH etwas nicht zu Ende überlegt: Mag sich auch ein allgemeines Bewusstsein „der beteiligten Kreise“ gebildet haben, dass ein einsichtiger und vernünftiger Motorradfahrer wegen der erhöhten Eigengefährdung entsprechende Motorradschutzkleidung trägt, so doch bestimmt kein solches, dass dies auch ein Rollerfahrer täte. Sonst sähe man mehr Rollerfahrer in buntem Leder. Weil es die einen tun, ist es geboten, auch wenn es die anderen in der gleichen Lage nicht tun! Weiter: Meine patinierte Lederkombi ist 20 Jahre alt – soll ich damit nicht mehr fahren, weil nach einer Statistik des Verkehrsclubs das allgemeine Bewusstsein der beteiligten Kreise Jacken nicht älter als 5 Jahre bevorzugt? Muss mein Rückenprotektor geprüft sein, und durch wen? Verzichten verständige Teilnehmer in der Bevölkerungsgruppe der Über-Achtzigjährigen nicht besser darauf, ein Auto zu lenken? Soll man aus dem Haus gehen?

Wie praktisch waren die Zeiten, als wir bei dem, was wir zu befolgen hatten, auf positive Normen blicken konnten anstelle eines „allgemeinen Bewusstseins der beteiligten Kreise.“ Das sogenannte Mitverschulden verkommt immer mehr zu einer vom Schadenersatzrecht nicht angestrebten Entlastung des Schädigers. Das Gesetz spricht von Verschulden des Beschädigten – was berechtigt die Rsp, daraus „kein Verschulden im technischen Sinne“ zu machen? Was immer einer auch angerichtet haben mag: das Opfer sei angeblich immer selbst schuld gewesen. Das kommt daher, dass man Mitverschulden einwenden muss, von Amts wegen prüft es das Gericht nicht. Also wird es auch eingewendet. Einem Sparer, dem mit leuchtenden Farben die Risikolosigkeit eines Anlageprodukts so lange geschildert worden war, bis seine Instinkte kollabierten und er unterschrieb, wird dann regelmäßig das „überwiegende Mitverschulden“ zugesonnen: Es sei doch allgemein bekannt, dass alles, was über ein Sparbuch hinausgehe, das Risiko des Totalverlusts in sich berge – in Zeiten überdehnter Bankenhilfspakete eigentlich auch das Sparbuch selbst.

Allerdings unterscheidet Österreich von Deutschland – 100 Jahre nach Karl Kraus – hier nicht nur die gemeinsame Sprache, sondern auch die gemeinsame Rechtsprechung: Während in Österreich den Anleger ein Mitverschulden an einer fehlerhaften Anlageberatung treffen kann, wenn er die Angaben seines Beraters nicht überprüft,[14] hat man in Deutschland längst erkannt, dass sich Beratung und Überprüfung des erhaltenen Rats durch den Beratenen logisch nicht vertragen: Der Informationspflichtige kann dem Geschädigten grundsätzlich nicht entgegenhalten, er habe den Angaben nicht vertrauen dürfen und sei deshalb für den entstandenen Schaden mitverantwortlich; die gegenteilige Annahme stünde im Widerspruch zum Grundgedanken der Aufklärungs- und Beratungspflicht.[15]


Fussnoten:

1) Rechtsanwalt, Motorrad- und Alfa-Fahrer in Wien
2) OLG Innsbruck 1 R 56/06d = ZVR 2006/226 (zust. Danzl)
3) 2 Ob 119/15m vom 12.10.2015 unter Rz 2.2.
4) 2 Ob 119/15m vom 12.10.2015 unter Rz 1.3.2.
5) 2 Ob 99/15w vom 08.06.2015 = ZAK 2015/541, 299
6) St. Rsp. seit 1975, RIS-Justiz RS 0058216.
7) In Abs 8 leg cit gibt es dann noch eine weitere Ausnahme: „bei ganz geringer Gefahr“.
8) 2 Ob 9/13g = ZAK 2013/474, 261; 2 Ob 188/07x.
9) 2 Ob 135/04y = ZVR 2006/33 (zust. Schoditsch/Griehser); 2 Ob 42/12h.
10) 2 Ob 99/14v = ZVR 2014/218 (zust. Karner) = Evbl. 2015/37 (Rohrer).
11) Deutsch, Haftungsrecht² 359.
12) Harrer in Schwimann RZ 25 zu § 13104 ABGB.
13) RS 0022681.
14) Häusler, Zum Mitverschulden bei Beratungsdienstleistungen, ÖJZ 2014/113 (FN1).
15) BGH vom 13.1.2004, XI ZR 355/02 mwN; dort war der Beratene sogar ein Rechtsanwalt und Notar!

Quelle: Anwalt aktuell 09/15 vom 18. Dezember 2015, Seiten 20f