I.

Die quadratisch-harmlose Sicht auf die Naturwissenschaft ihres Chefs vom Dienst gereicht der Zeitung nicht zum Ruhme.[1] Nirgendwo tritt das Dilemma der Halbbildung[2] in grelleres Licht als bei der Preisung der naturwissenschaftlichen Weltsicht:

Denn wären wir Wissenschaftler, könnten wir mit der Methodik unserer eigenen Domäne den wissenschaftlichen Nachweis führen, dass der wissenschaftliche Ansatz dem Glaubensansatz in gewissem Sinne überlegen ist (viel mehr allerdings auch nicht). Richard Dawkins tut so etwas, als Evolutionsbiologe im Egoistischen Gen und als Laie (oder wiederum als Evolutionsbiologe) in der God Delusion. Wir Dilettanten müssen aber letztlich glauben, was die Wissenschaftler sagen. Das ist dann genau das, was als unwissenschaftlich gegeißelt wird. „Um zu glauben, was wir lesen, wär ein Auge g’nug gewesen“, warf Heinrich Heine schon vor 200 Jahren in die Schlacht der Aufklärung.[3]

Der Plot aus der Zeitung ist schnell geschildert: Galileis Feinde, vier Jahrhunderte nach dessen Wirken, seien heute die Astrologie- und Homöopathieadepten sowie die Gentechnik- und Erderwärmungsskeptiker: die Adepten, weil sie grundlos an etwas glauben, und die Skeptiker, weil sie es nicht tun. Das Gedankenexperiment – wie die Wissenschaftler sagen – geht dann so, sich auszumalen, wie ein 2014 wiedererstandener Galilei auf unsere heutigen Zustände reagieren würde, angeblich: 400 Jahre, und kein bisschen weise. Aber so einfach ist es nicht.

II.

Warum eigentlich Galilei als Vater des modernen säkularen Wissenschaftsbetriebs huldigen, und nicht stattdessen Newton oder Kopernikus, Bacon oder Kant? Denn das Fernrohr allein reicht wohl nicht, man muss es auch auf etwas richten und aus dem Gesehenen dann seine Schlüsse – richtig – ziehen. Man braucht eine Methode, sozusagen.

Doch war Galileo Galilei tatsächlich der Meilenstein in der Begründung von Naturwissenschaft. Dabei hat er weder das Fernrohr erfunden noch das heliozentrische Weltbild. Und als aufrechter Kämpfer gegen die katholische Kirche ist der tiefgläubige Galilei auch nicht berühmt geworden. Aber Galilei begann für das Abendland Natur-Gesetze zu formulieren, die uns in der Folge noch zu allerhand Reichtum verhelfen sollten, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn.

"Vor Galilei hat sich niemand dafür interessiert, ob ein schwerer Körper schneller zur Erde fällt als ein leichter, weil er etwa stärker zur Erde gezogen würde. Um zu überprüfen, ob Körper von verschiedenem Gewicht tatsächlich mit unterschiedlichen Geschwindig­keiten fallen, ließ Galilei - der besseren Beob­achtbarkeit wegen - verschieden schwere Kugeln eine glatte schiefe Ebene hinunterrollen. Die Situation ist ähnlich wie bei senkrecht fallenden schweren Körpern, aber eben leichter zu beobachten, weil die Geschwindigkei­ten geringer sind. Galileis Messungen haben übrigens bekannt­lich ergeben, daß die Geschwindigkeit aller Körper in gleichem Maße zunimmt, unabhängig von ihrem Gewicht."[4]

III.

Gesetze kannten wir vorher schon, sie haben Herrschaft erst ermöglicht, doch jetzt zwingen wir sie gewissermaßen auch der Natur auf! "Seit dem 18. Jahrhundert hat man sich auf das Beispiel von Physik und Chemie berufen um zu legitimieren, daß man das Verstehen mit der Ent­deckung von Gesetzen gleichsetzt; man hat sich aber auch darauf berufen, um es als etwas natürliches und unausweichliches hinzu­stel­len, daß der einzelne Mensch Geset­zen unterworfen ist, die derart um­fas­send sind, daß menschliches Handeln sie ebenso wenig zu ändern vermag, wie die gering­fügigen Schwan­kungen, die unablässig den Zustand eines Gases im Gleich­gewicht stören, das Gesetz der idealen Gase zu ändern vermögen."[5]

Und wenn wir mit der Natur fertig sind, kommt die Ökonomie dran; dann ist es vollbracht:

"Der Glaube an die Existenz ökonomischer Gesetze, der Bezug auf ein an­geblich 'rein ökonomi­sches' Funktionieren, der sie ungehindert 'zuwir­ken' läßt, um das von diesen Gesetzen definierte Optimum zu erreichen, ent­spricht augenscheinlich jener Art von wissenschaftlichem Vorgehen, wie es von Galilei begründet wurde. Dieser zögerte nicht, von der Reibung ab­zusehen, um das Phänomen des freien Falls eines Körpers in seinem Wesen zu erfassen. Dieses Vorge­hen stellt […] nicht eine Methode sondern eine Wette dar. Die von Galilei be­schrie­benen Bewegungen scheinen die Verein­fachung tatsächlich zuzulas­sen; eine Berücksichtigung der Rei­bung macht die Gleichungen kom­plizierter und verändert ihre Form, hebt aber ihre Möglichkeit nicht auf. Die Gleichun­gen der Gleichge­wichts-Thermodynamik bzw der rationalen klassischen Wirtschaftstheorie sind dagegen nur möglich, weil von dem eigentlich irre­ver­siblen Charakter der physikalisch-chemischen Prozes­se wie vom Unter­schied zwischen dem tatsächlichen Verhalten der Menschen und dem des 'homo oecono­micus' abgesehen wird. In diesen Fällen ist es das Ideal des Verstehens - ein Ideal, das heute zweifelhaft geworden ist -, das Streben nach genauen Geset­zen, das rechtfertigt, genau das für nebensächlich zu erklären, dessen Außer­achtlassung solche Gesetze erst möglich macht."[6]

IV.

400 Jahre sind eine lange Zeit, in der auch schon mal Zweifel angemeldet wurden. "Das 'Haus der Wissen­schaft', dieser alte Prachtbau, ist an­schei­nend baufällig gewor­den, und weil die Re­novierung vie­len seiner Bewoh­ner als zu aufwendig er­scheint, zieht man es vielfach vor, die Mauern mit eilig auf­gestellten Balken abzu­stüt­zen. Allerlei Ge­spen­ster und Irrlich­ter, von denen es hieß, man sei sie schon lange los, geistern nachts durch die Räume oder hämmern zumindest an die Kellertür; Unkraut dringt durch die Ritzen und der Putz fällt von den Wänden. Natürlich gibt es nicht weni­ge unter den Mietern, die dies be­streiten, aber immer häufi­ger - so scheint es - schauen auch sie abends unter's Bett, und in den Keller trauen sie sich allemal nicht mehr."[7] Das schreibt ein Wissenschaftler. In seinem 3500 Seiten dicken Hauptwerk untersucht Hans Peter Duerr methodisch stringent anhand von tausenden Fallbeispielen den „Mythos vom Zivilisationsprozess“. Aber als Freund Feyerabends[8] blickt er auch – wissenschaftlich – auf das Verhältnis des Wissenschaftlers zum Irrationalen.[9] Das heißt: Man kann auch die Wissenschaftstheorie selbst wissenschaftlich untersuchen. Sollte man sogar. Vielleicht ist sie ja, mit Paul Feyerabend, „eine bisher unerforschte Form des Irrsinns“.[10] Auch andere illustre Gestalten fallen einem ein: Glasersfeld, Foerster, Kuhn und der von Feyerabend heftig bekämpfte Popper. Bis auf Kuhn konnten sich die Herren übrigens auf Wienerisch unterhalten. Nach Feyerabend sei es „leicht, die Menschen im Namen der Vernunft an der Nase herum zu führen“.[11] Wissenschaftliches Wissen sei eine Wissensform wie viele andere auch, mit Vorteilen und Nachteilen; insbesondere sei es dem Mythos viel näher als angenommen.[12] Das hieße dann allerdings, man muss gar kein Feind Galileis sein, um Zweifel an der Methode anzumelden, sondern nur versuchen, sie zu Ende zu denken. Aber darum geht es gar nicht.

V.

Es geht um die Zielgerichtetheit der wissenschaftlichen Methode, den telos. Wissenschaft ist nämlich aufwändig und wird daher nur dann betrieben werden, wenn sie von irgendetwas befeuert wird. Das kann durchaus der Erkenntnishunger sein, aber allzu oft ist das nicht der Letztzweck; insbesondere nach 400 Jahren nicht mehr, wenn das Unternehmen der Wissenschaft bereits selbst viel Geld kostet. Schon das Zwingen unter Gesetze stellte einen Akt der Unterwerfung dar, und unterwerfen tut man nicht zwecklos, sondern um daraus Nutzen zu ziehen. Wenn es gigantische Organismen gibt, deren Streben wie dasjenige aller Organsimen nach Selbstreproduktion und Nahrungsaufnahme geht, und wenn die Naturwissenschaft dafür eine taugliche Methode abgibt, dann werden sie sich ihrer bedienen. Wenn also, um bei dem Beispiel in der Zeitung zu bleiben, manche dieser Organismen davon leben, gentechnologisch veränderte Pflanzen zu verkaufen, dann werden sie sie herstellen und verkaufen, falls man sie lässt, ebenso wie Horoskope, klimaerwärmende Produkte und Homöopathika. Doch, das hat schon einen Nutzen. Halt nicht immer für die Kunden. Die Wissenschaft spielt dabei nur mehr eine dienende Rolle, und ihre naiven Apologeten in den Zeitungen auch.

Benedikt Wallner, 20.2.2014
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[1] DER STANDARD, Album, Galileos Feinde unter uns, 15. Februar 2014, von Eric Frey, http://derstandard.at/1389860505404/Galileos-Feinde-unter-uns

[2] gemeint im geometrischen Sinne: wir haben keinen Abschluss in dem Fach, in dem wir dilettieren, und wohl meist auch keinerlei praktische Erfahrung darin gesammelt.

[3] „Zur Teleologie“

[4] Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit (1988), 29

[5] Prigogine/Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege wissenschaftlichen Denkens (1990) 304

[6] Prigogine/Stengers aaO, 304

[7] Duerr, Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. I-IV (1985), I, 7

[8] Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends. 1. Band (1980); 2. Band (1981)

[9] Duerr, Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. I-IV (1985)

[10] zit. in http://www.zeww.uni-hannover.de/077_Hoyningen_PKF.pdf, abgerufen am 19.2.2014, 16

[11] Feyerabend, Wider den Methodenzwang (1976; Neuauflage 1995), 37, mit zahlreichen weiteren Nachweisen

[12] zit. in http://www.zeww.uni-hannover.de/077_Hoyningen_PKF.pdf, abgerufen am 19.2.2014, 15