Die moderne Form der Knechtschaft: der Konsum

In dem Maße, wie sich Konsum in vielfältige Formen ausdifferenziert und Arbeit ihre Stellung als wichtigstes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der Lebensführung und Selbstbestimmung verliert, kann man von einem Übergang von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft sprechen. Diese zeichnet sich durch einige Besonderheiten gegenüber früheren Gesellschaftstypen aus, doch mit diesen gemeinsam hat sie eine grundlegende Asymmetrie: die Differenz zwischen Herren und Knechten. Die unterwerfende Macht hat diese Differenz verwischt und zugleich eine Effizienz erreicht, von der Potentaten früherer Zeiten nicht zu träumen gewagt hätten. Nicht mehr der Entzug von Gütern, sondern gegenteilig ein Exzess der Kommerzialisierung verfestigt die Herrschaftsstrukturen. Die Knechtschaftsform unserer Tage ist der Konsum.

Auffällig ist zunächst, dass sich die Knechte in diesem System, also die Konsumenten, widerspruchslos in ihr Schicksal zu fügen scheinen und nicht (wie zu allen Revolutionszeiten zuvor) begehren, selber Herren zu sein. Das Glück der Knechte verhindert, dass sie sich als Knechte sehen, aber es ist ein schales Glück: Es besteht bloß darin, keinen Hunger zu haben. (Gerade den am meisten Geknechteten sieht man an, wie sehr sie keinen Hunger haben.) Da aber der auf das Konsumsubjekt einwirkenden Herrschaft keine sichtbaren Machtverhältnisse im Sinne früherer körperlicher Verfügbarkeiten (Leibeigenschaft) zugrunde liegen, sondern umgekehrt alle aktuelle politische und wirtschaftliche Machtverteilung erst Ergebnis dieser Konsumweise ist, stellt sich die Frage nach der Art und dem Feld der Herrschaftsmethodik. Wirkliche Fesseln sieht man nirgendwo. Liegt das autonome Subjekt der europäischen Aufklärung nur metaphorisch in Fesseln, fürchtet es sich schon wieder vor Dämonen, die es nicht gibt?

Die Vorstellung vom Konsum-Individuum, das sich elegant, autonom und zum eigenen Vorteil als „Souverän“ (vgl. die Rede vom Kunden als „König“) in der Warenwelt bewegt, ist schmeichelhaft. Nur deswegen wird sie vom Marketing suggeriert. Leicht lädt sie zu der Verwechslung ein, der politische Souverän herrsche auch über das Konsumverhältnis. Tatsächlich verwandelt uns dieses aber nicht in selbstbestimmte Subjekte, sondern in Schein-Agenten, die aktiv ihre eigene Passivität befestigen. „Die heutige Krise der Freiheit besteht darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert, sondern ausbeutet. Die freie Wahl wird vernichtet zugunsten freier Auswahl zwischen Angeboten.“[1] Das Konsumsubjekt ist sogar das effizienteste Modell unter all den historisch entwickelten Knechten, weil alle Akteure am selben Strang der Profitmaximierung ziehen, während es gegenüber Sklaven und Leibeigenen noch galt, unter erheblichem Aufwand mit den Widerständen der Ausgebeuteten fertig zu werden. Sklaverei, Feudalismus und Merkantilismus hatten noch gewisse Systemschwächen in Rekrutierung und ausreichender Produktivität der Knechte, aber in der entwickelten Konsumgesellschaft glaubt der Knecht gar, er sei Herr und front so mit Freude. Durch die in jedem Einzelnen vollzogene Selbstausbeutung wird das Ergebnis an der Spitze der Pyramide in nie gekanntem Ausmaß maximiert, dies bei gleichzeitig geringsten Kontroll- und Erhaltungskosten. Hedonismus erscheint dabei aber nur als exzessive Kehrseite einer von Leistungsimperativen beseelten Lebenswelt, in der das disziplinarische Sollen einem vermeintlich grenzenlosen Können gewichen ist.[2] In dieser vom Schein der Eigenverantwortlichkeit geprägten Gesellschaft lösen sich sichtbare Verbote zusehends auf, weshalb sich das unter dem Leistungsdruck stehende Subjekt sein Unbehagen selbst zuschreibt. Es fühlt sich weniger unterdrückt, als vielmehr unzulänglich. Die Krankheit unserer Gesellschaft ist die Depression,[3] ihr psychopathologisches Spezifikum das Burnout-Syndrom.

Cui bono?

Und wer profitiert? Diese Frage drängt sich zwangsläufig auf, aber Han verabsäumt es in seinem Buch „Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“, sie zu stellen, da er von depersonalisierten, anonymen Machtstrukturen ausgeht. Wir dürfen uns zwar den Herren wirklich nicht als Person vorstellen, vielleicht ist das die Schwierigkeit. Aber das heißt nicht, dass nicht Personen davon profitierten. Es wäre eine anthropomorphe Fehlvorstellung, solche wie uns, Menschen aus Fleisch und Blut und mit menschlichen Interessen, hinter dem Antrieb von Systemen zu vermuten. Wir müssen akzeptieren, dass wir Attribute wie gut und böse, was ihre Auswirkungen auf die meisten von uns anbetrifft, nicht nur Menschen, oder Vertretern von Klassen, sondern Systemzuständen zuschreiben können. Das erkennt auch Han und spricht zutreffend von der „Intelligenz des neoliberalen Regimes“, das nun keinen Widerstand gegen das System mehr aufkommen lässt, während es im Regime der Fremdausbeutung möglich war, „dass die Ausgebeuteten sich solidarisieren und sich gemeinsam gegen die Ausbeuter erheben.“[4] Doch schüttet er das Kind mit dem Bade aus: „Diese klassenlose Selbstausbeutung […] macht gerade die soziale Revolution unmöglich, die auf der Unterscheidung zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten beruht.“[5] Einfache Geldflussrechnung zeigt indessen, dass wir es mit keiner klassenlosen Selbstausbeutung zu tun haben. Man sagt zwar, dass von der Finanzwirtschaft „nirgendwo Werte geschaffen“ wurden, aber das ist streng genommen nicht richtig: 1% der Weltbevölkerung hat – sich – nach der Finanzkrise beachtliche Werte geschaffen, nämlich 43% „of the world’s assets“.[6] Die Demarkationslinie zwischen Herren und Knechten deckt sich indessen nicht mit der Dichotomie von Produzenten und Konsumenten, denn auch ein beachtlicher Teil aufseiten der Anbieter wirkt an der Gestaltung der Spielregeln nicht mit. Im neoliberalen Regime konzentriert sich Macht vielmehr in industriellen Aggregationsformen – den Corporations. Sie operieren transnational, ihr einziger Zweck liegt in der Profitmaximierung.[7]

Braucher

Entwickelte Konsumgesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts kennzeichnet nicht mehr nur der Einsatz von Kapital und dessen Vermehrung, der für andere Epochen so grundlegend war, sondern ihr profitabler Allokationsmechanismus von Reichtum: In ihnen schaffen nicht mehr Berg- oder Feldbau, nicht Raubzüge oder kriegerische Eroberungen, weder Sklavenwirtschaft noch Arbeitsausbeutung in den Fabriken den zu allen Epochen angestrebten Reichtum. Um zu Reichtum zu gelangen, braucht es vielmehr das Geld der Kunden. Die Menge der Verbraucher ist noch viel größer als die Menge der Arbeitnehmer. Was die Angehörigen der Konsumentenklasse verbindet ist ihre Konsumtätigkeit. Weil sie aber die Güter, die man kaufen kann, meist auch kaufen müssen, sind Konsumenten eigentlich nicht durch ihre Eigenschaft gekennzeichnet, Leistungen der Industrie zu „verbrauchen“. Allein schon in dieser Punzierung, die im lateinischen consumere – verzehren, aufbrauchen, erschöpfen – steckt, offenbart sich die Sichtweise auf die Verbraucher als eine fremde, nämlich von der Industrie bestimmte: Sogar unseren Namen überlassen wir der Gegenseite, auch dies ein Zeichen von Unterworfenheit. Sich selbst haben die Verbraucher noch nicht definiert.

Was verbraucht ist, ist definitionsgemäß weg. Käufer kaufen aber gerade nicht, um nichts zu haben, sondern im Gegenteil um zu haben, zu gebrauchen (was consumere auch heißt). Das meiste von dem, was sie kaufen, „brauchen“ sie geradezu, denn in dem Ausmaß, wie eine Konsumgesellschaft etabliert wird, verschwindet die Subsistenzmöglichkeit, und es gibt zum Kaufen keine Alternativen mehr. Käufer haben bestenfalls eine Auswahl, aber keine Wahl, zu kaufen oder nicht. Darin liegt der Schlüssel für die Kontrolle über ihre Ressourcen. Besser wäre es daher, sie „Braucher“ zu nennen anstelle von „Verbraucher“.

(Ver-)Braucherrechte

Konsumenten wähnen sich frei, und das sind sie auch in gewissem Sinne. Doch die (bloße) Freiheit der Auswahl gerät, mangels Alternativen, zu einer Art Konsumzwang. „Der Konsum wird nicht unterdrückt, sondern maximiert. Kein Mangel, sondern ein Überfluss wird generiert. Wir sind alle dazu angehalten, zu kommunizieren und zu konsumieren.“[8] Die Bedingungen, unter denen konsumiert wird, folgen dabei dem Diktum der Industrie, in der keineswegs alle Player, sondern nur die größten Corporations den Ton angeben. Verbraucherrechte auf ihrem gegenwärtigen Stand sind kein Ausdruck einer erkämpften Errungenschaft der Konsumentenklasse, sondern ein von deren Widerpart – den Anbietern – installierter Sicherungsmechanismus, der kybernetischen Zwecken dient, nämlich friktionsfreie Verkaufsabwicklungen ermöglichen soll. Wo die Berufung auf rechtlich normierte Ansprüche seitens der Verbraucher den Corporations wirklich wehtut, wird heftig an deren Außerkraftsetzung gearbeitet.[9] Während das operational budget der BEUC – der „umbrella group in Brussels to defend the interests of all Europe’s consumers“[10] – insgesamt nur € 3.196.000 beträgt,[11] machten alleine die geschätzten Kosten der direkten Lobbyarbeit bei den EU-Organen von BUSINESSEUROPE – „the leading advocate for growth and competitiveness at European level, standing up for companies across the continent and campaigning on the issues that most influence their performance“[12] – für das Geschäftsjahr 2013 über € 4.000.000 aus![13] Und das ist nur eine von tausenden Organisationen[14] im Transparenzregister der EU, viele mit geringerem Budget, und manche mit erheblich mehr.[15]

Der vermeintliche Souverän begnügt sich mit der oktroyierten Beglückungsinstitution einer Handvoll Partikularrechten, denen kein wirklicher Verfassungsschutz zukommt. Wir stecken geschichtlich noch im aufgeklärten Absolutismus der Konsumgesellschaft. Der Schutz von Endverbrauchern kommt erst als Artikel 38 in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[16] vor, und auch dort steht nur das dürre Sätzchen: „Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.“ Weit davor rangieren die üblichen Verdächtigen: Würde des Menschen, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Verbot der Sklaverei, Religionsfreiheit und sogar Umweltschutz. Die Urheber der Charta sahen sich zuvorderst als politische Bürger, nicht als Agenten im Allokationsprozess. In dieser Auffassung liegt eine grundlegende Verwechslung. Mittlerweile hat sich das Verhältnis längst umgekehrt, der „Neoliberalismus macht aus dem Bürger einen Konsumenten.“[17] Diesmal könnte die Auflehnung der Knechte gegen die Herren ein Kampf um grundlegende (Ver-)Braucherrechte sein, die der strukturellen Benachteiligung von wirtschaftlich Schwachen und Unbedarften wirksam entgegen treten. Jede neue gesetzliche Regelung sollte vor dem Grundrecht, als Konsument nicht verkürzt zu werden, bestehen müssen.

Eine Frage der Technik

Nach mehreren tausend Schicksalen, die mir als Verbraucheranwalt im Wesentlichen immer gleich geschildert werden, stelle ich mir die Konsumwelt ungefähr so vor wie die belebte Natur. Auch diese sieht anfangs recht hübsch aus, aber wir wissen schon, welchem Prinzip sie gehorcht: Leben heißt stoffwechseln, und die Stoffe, die zur Nahrung dienen, sind ebenfalls wieder Lebewesen. Der Wiener Evolutionsbiologe Martin Lödl erschreckt uns mit seiner ausführlichen, antiromantischen Dekonstruktion einer anscheinend so harmonischen, sonnenbeschienenen Blumenwiese im Frühsommer: bei näherem Hinsehen ein einziges Fressen und Gefressenwerden.[18]

Das Ausnützen fremder Energien, fremder Ressourcen und insbesondere fremder Arbeitskraft ist ein grundlegendes ökonomisches Prinzip. Es ist ökonomischer und ressourcenschonender, fremde Leistungen zu inkorporieren, als sie selbst zu erbringen. Schon jede unserer Zellen enthält ein kleines Kraftwerk, die Mitochondrien, ehemals selbständige Lebewesen, die einst von den Eukaryoten inkorporiert und zu eigenen Zwecken verfügbar gemacht wurden. Diese Endosymbiose ist bereits vor ca. 2 Milliarden Jahren passiert.[19]

Gelebt wird meist auf Kosten anderer, und zwar derer, die dafür in Frage kommen. Es gibt kein System, in dem nicht gestrebt wird. Es könnte zwar ein System geben, in dem keine Ausbeutung stattfindet, aber nicht von selbst sondern nur, wenn es künstlich erschaffen und danach stabilisiert wird, weil der ökonomisch sinnvollere Zustand derjenige der Ausbeutung ist. Diesen Zustand einzuhegen, ihn zu entschärfen, wäre die Kulturleistung unserer Tage. Dafür braucht es Agenten, keine passiven Rezipienten, bloße Konsumenten. Aus Sicht des Systems stellen Einzelindividuen mit ihrer jeweiligen Würde, ihren Wünschen und Kaprizen höchstens eine Störgröße dar, die es zu eliminieren gilt. Kunden könnten sich zB fragen, warum ein Geschäftspartner oder Marktteilnehmer auf der Angebotsseite ihnen, den Nachfragern, justament dieses Anbot hier und jetzt macht, was es also ihm nützen mag und inwiefern gerade sie in sein Beuteschema passen. Im übertragenen Sinn benötigen wir eine entwickelte ökonomische Immunisierungsstrategie gegen die alltäglichen Bedrohungen des Konsumlebens. Was dazu fehlt ist zunächst ein Verständnis vom Streben „lebender“ Systeme wie z.B. lebender Organismen. Deren Bewegung ist grundsätzlich auf Usurpation gerichtet. Sind einmal wir das Objekt dieser Usurpation, wie im Konsumismus, muss es folgerichtig für uns um „defense“ gehen als Überbegriff von Verteidigung/Verstecken/Flüchten.

Während eine zentrale Frage dahin geht, aus welchen Quellen sich die etablierte Ordnung speist und insbesondere, ob die stets erforderliche Zustimmung noch gegeben ist (oder nur so erscheint), besteht eine andere darin, welche Alternativen es dazu hic et nunc gibt. Ganz wie aufseiten der Anbieter kann es sich dabei nur um eine Frage der Technik handeln, so wie man sagt, man wendet für eine Problemlösung die „richtige Technik“ an. Während die Philosophie schon mal Jahrtausende brauchen kann, um sich einer identifizierten Problemlage zu nähern, sind von der Jurisprudenz brauchbare Abhilfen hic et nunc gefordert. So wie die ärztliche Kunst nicht gleich daran arbeitet, ewiges Leben zu verschaffen, wenn sie heilend eingreift, ist in Sachen Herrschaft die Frage ihrer Definition verschieden von der Frage nach ihrer Eindämmung oder Verhinderung. Es gilt den Fokus auf die letztgenannte Frage zu lenken, zu sehen, dass es in allen geschichtlichen Epochen Herrschaft gegeben hat und davon ausgehend Methoden zu entwickeln, durch die unsere Position gestärkt wird. Und wenn hier von „uns“ die Rede ist, so ist damit die zahlenmäßig überwältigende Mehrheit der Bewohner dieses Planeten gemeint, für die alle dasselbe gilt: Dass sie nicht ihrem, sondern dem Willen von Herren unterworfen sind, bewusst oder unbewusst.

Die Gegenseite ist uns in der Technik weit voraus: Management ist nichts anderes als die Anwendung einer bestimmten Methode, einer Technik im weitesten Sinne, um Zwecke zu erreichen. Es ist wie bei allem menschlichen Fortschritt ein Abstreifen naiver Vorstellungen und ihre Ersetzung durch mal erdachte, mal erprobte Theorien oder kleine Handlungsanweisungen. Vergleichbares fehlt aber aufseiten der Braucher. Im Gegenteil, mittels Marketing (Neuromarketing) wird sogar noch das Konsumverhalten gemanagt, anstatt von der Konsumentenseite selbst bestimmt zu werden. „Marketing ist jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle […].“[20] Wie weit ist es da noch her mit der vielbeschworenen Autonomie des Selbst der Aufklärung? Wir sind nicht nur nicht die Herren, die wir zu sein glauben – wir sind nicht einmal die Herren unseres Wünschens.

Seit Erfindung der industriellen Produktion verhilft Knechtschaft den Herren auch dann noch zu Reichtum, wenn die Herrschaft nicht lückenlos alle Individuen umfasst, weil einige wenige Narren ausgestiegen sind. Konsumverweigerung ist zwar im Prinzip möglich, sowohl partiell – ich kaufe das Produkt X nicht! – als auch generell – ich kaufe gar nichts und baue meine Lebensmittel selber an. Aber abgesehen von dem Umstand, dass die letztgenannte Variante nur für einen kleinen Kreis von Personen überhaupt realisierbar wäre, sollte diese Möglichkeit nicht über die wahre Macht derjenigen hinweg täuschen, die die Ressourcen kontrollieren. Jenen kommt es auf Kleingruppen, die sie nicht erreichen, nicht an. Der entwickelten Konsumgesellschaft, in der nicht mehr nur wie zu Max Webers oder Karl Marxens Zeiten auch, sondern alltäglich, vorwiegend und notwendig konsumiert wird, ist ein Epoche prägender Ismus eingeschrieben – der Konsumismus. Wer über eine Wohnung, ein Auto oder ein Bankkonto verfügt, vermag um vieles mehr als ihre Verweigerer, verfügt über mehr Freiheitsgrade und gehört so einer relativ überlegenen Kultur an. Sie wird die unterlegene ebenso verdrängen wie die sesshafte die Jäger-/Sammlerkultur verdrängt hat. So wird jede Alternative einer Konsumverweigerung stark eingeschränkt durch die herrschende Lebensform. Gesellschaftliche Zwänge können einerseits evaluativ wirken – wer Produkt X nicht hat, gehört nicht dazu – andererseits den Handlungsspielraum in praktischer Weise empfindlich limitieren: ohne festen Wohnsitz keinen Job, ohne Job meist kein Bankkonto, und ohne Bankkonto keine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben – und keinen festen Wohnsitz. Es kann daher nicht um esoterische Konsumverweigerung gehen, sondern um ein Kultivieren von Konsumtechniken, befestigt von Konsumrechten.

Was also tun? Verbrauchertechnik bedeutet Bildung, Ethik, Training, eine Magna Charta der Verbraucherrechte und insgesamt die Wahrnehmung der Verbraucherklasse, die neuen mächtigen Wesen gegenübersteht, die – dem Gleichnis von Matrix folgend – Leben aus ihr heraussaugen. Schon in ein paar Jahren wird die Marktlogik, der Acker dieser neuen Wesen, den Globus lückenlos überwuchert haben. Bis dahin, aber nicht länger haben wir Zeit, Immunisierungsstrategien zu entwickeln. Die neuen Herren bestimmen über unsere Zeit und auch unsere Lebenszeit, weil sie über den Preis die Ressourcen kontrollieren. Es ist naiv an jene Entscheidungsfreiheit zu glauben, die nur innerhalb der Marktlogik gewährt wird.

Die Menschenrechte und Grundfreiheiten waren sinnvolle Entwicklungen vergangener Jahrhunderte. Ihre Schutzwirkung ist gegen den Nationalstaat westlicher Prägung gerichtet. Im Verhältnis zu den wahren Machtzentren sind sie aber nutzlos. Multinationale Firmen werden nicht länger von den Nationalstaaten und ihrer Gesetzgebung kontrolliert, die USA vielleicht ausgenommen. Umgekehrt bedienen sie sich ihrer zum Überleben.[21]

Noch sind wenigstens Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Hand der Nationalstaaten, ihrer Über- und Untereinheiten.[22] Noch kann man selbst als Individuum einen Konzern klagen, kann man sein Recht angesichts der Konzern-Übermacht durchsetzen. Gäbe es dieses Recht nicht, gäbe es keine Durchsetzung. Aber auf welchen Füßen steht dieses Recht? Kann es leicht geändert werden und schon morgen nicht mehr gelten? Ohne Magna Charta ist es nicht fest verankert wie die Grundrechte vergangener Epochen. Genau das sollte unsere Besorgnis erregen. Ein Abschied vom Konsumenten, wie wir ihn kennen, steht uns bevor: entweder setzt sich seine Entmündigung unter dem Druck des Machtungleichgewichts fort und damit einhergehend auch die Schwächung seiner rechtlichen Position; der Konsument als Träger seiner Kultur wäre dann eine passive Entität, nicht länger ihr gestaltender Agent wie in vorangegangenen Epochen. Oder aber, es gelingt ihm, sich (neu) zu erfinden. Diese Zeilen sind ein Plädoyer für die letztgenannte Alternative.

Benedikt Wallner, Mitarbeit: Mathias Funk, 05.11.2014


[1] Han, Byung-Chul (2014): Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, 27.

[2] Vgl.: Han, ebd., 10.

[3] Vgl.: Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.

[4] Han, ebd., 16.

[5] Han, ebd., 15.

[6] The Economist January 22nd - 28th 2011, The rich and the rest. A special Report on the global elite, 6.

[7] Max Weber dazu: „‘Erwerbstrieb‘, ‚Streben nach Gewinn‘, […] nach möglichst hohem Geldgewinn, hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. […] Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus […]. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung […] dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen, kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach ‚Rentabilität‘.“ (in: Schriften 1894-1922, Kröners Taschenausgabe 2002, 561).

[8] Han, ebd., 55.

[9] Und die Erfolgsaussichten der Lobbyisten sind mitunter hoch, wie der Fall Strasser zeigt. Dieser wurde 2014 wegen Bestechlichkeit zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er als MEP versucht hat, gegen Bestechungsgeld das Europäische Gesetzgebungsverfahren zugunsten von Lobbygruppen der Finanzindustrie zu beeinflussen.

[15] Z.B. AFME – “the voice of Europe's wholesale financial markets”, vgl. http://www.afme.eu/About/Mission.aspx, mit geschätzten Kosten der direkten Lobbyarbeit bei den EU-Organen für das Geschäftsjahr 2013 von >= € 10.000.000, vgl. http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/displaylobbyist.do?id=65110063986-76.

[16] 2012/C 326/02; allerdings bezeichnet Artikel 4 Abs 2 lit f des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union („Lissabon“) den Verbraucherschutz als einen der Hauptbereiche der Union.

[17] Han, ebd., 20.

[18] Lödl, Martin (2009): Fatales Design, 18ff.

[19] Nämlich zwischen Eukaryoten (Einzeller) und Proteobakterien (stickstofffixierende Bakterien).

[20] Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Unterhandlungen: 1972-1990, 260.

[21] Vgl. Hirsch, Joachim (2002): Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen; ders., mit Jessop, Bob und Poulantzas, Nicos (2001): Die Zukunft des Staates.

[22] An einer Änderung dessen wird mit dem geplanten Investitionsschutzabkommen von TTIP schon fleißig gearbeitet.