Im Berufungsurteil eines Musterprozesses des VKI im Auftrag der AK Vorarlberg urteilte das LG St. Pölten, dass der geschädigten Konsumentin kein Mitverschulden trifft, da sie nicht von einer besonderen Unerfahrenheit des Beraters hätte ausgehen müssen und es folglich nicht ihre Pflicht war, die Auskünfte des Beraters zu überprüfen. 

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, dass der Berater jeglichen Hinweis auf Risken der MEL-Zertifikate unterließ und daher keine Rede davon sein kann, dass die Konsumentin vollständig über die für ihre Entscheidung relevanten Umstände informiert wurde. Für den Berater musste auch erkennbar sein, dass die Konsumentin die vorgelegten Formulare samt der schriftlichen Risikobelehrung nicht gelesen hat. Sein Verhalten wurde als grob fahrlässig qualifiziert.

Dennoch traf laut Erstgericht die Konsumentin ein Mitverschulden vom einem Drittel, weil sie die Risikohinweise weder gelesen noch die Risikoklasse vier von fünf hinterfragt hat, noch – trotz Kenntnis, dass es bei Aktien Risken gibt – den Umstand beachtet hat, dass sich der Kaufauftrag auf Aktien bezieht. 

Das Berufungsgericht folgt der Auffassung der Klägerseite, wonach § 1299 ABGB meist ein Mitverschulden des Beratenen verbiete. Nach der Argumentation der Berufungswerberin „… ordnet § 1299 ABGB die Mithaftung des Beratenen (nur) dann an, wenn dieser um die Unerfahrenheit des Beraters wusste oder wissen konnte. Das Gesetz beschränkt danit klar die „Eigenverantwortung“ des Beratenen auf die offenkundigen Mängel des Beraters, aber nicht der Beratung! Ist der Berater unverdächtig, lässt das Gesetz das Vertrauen auf den Inhalt der Beratung mit gutem Grund ohne jede Haftungsfolge für den Beratenen. § 1299 ABGB ist insofern die speziellere Norm zu § 1304 ABGB, als er das Mitverschulden beim Beratungsverhältnis regelt.“

Das Berufungsgericht folgt dem insoweit, als dass „ … die Gesetzesbestimmung des § 1299 ABGB an sich klar erkennen lässt, dass es eben gerade nicht Aufgabe des Konsumenten ist, die Auskünfte, welche er von dem Anlageberater erhält, zu überprüfen. Dies würde dem Sinn eines Beratervertrages ja in der Tat widersprechen. Es geht bei … dieser Gesetzesbestimmung darum, dass dem Konsumenten auffallen müsste, dass der Berater selbst in seinen Geschäften unerfahren ist. Hierauf bezieht sich das in § 1299 ABGB angesprochene Mitverschulden des Beratenen. D.h., es geht hier letztlich um eine Art Auswahlverschulden in der Person des Beraters, nicht jedoch um ein Mitverschulden des Beratenen, was den Inhalt des Beratungsgespräches betrifft. Dafür, dass die Konsumentin im konkreten Falle von einer besonderen Unerfahrenheit des Beraters hätte ausgehen müssen, bieten die Sachverhaltsfeststellungen des Erstgerichtes keinen Anhaltspunkt. …“

Ebenso auf der Tatsachenebene vermag das Berufungsgericht kein Versäumnis der Konsumentin erkennen, welches ein nennenswertes Mitverschulden von ihrer Seite überhaupt begründen könnte. Bei genauerer Betrachtung der Urkunden, die der Anlegerin vom Berater zur Unterschrift vorgelegt wurden und deren Inhalt in diesem Verfahren ja nicht strittig ist, kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass die vom Erstgericht und von der Berufungsgegnerin gezogene Schlussfolgerung, nämlich die Konsumentin hätte bei genauem Studium dieser Unterlagen skeptisch werden müssen, gar nicht zutrifft.

Der Anlageberater hat der Konsumentin bei Kenntnis ihrer Veranlagungsabsichten und ihrer finanziellen Lage und Einkommenssituation explizit die MELZertifikate empfohlen und diese als sichere Investition in Immobilien dargestellt. Nach den eindeutigen und auch nicht bekämpften Feststellungen des Erstgerichtes hat die Konsumentin auf diese Darstellung vertraut. Die der Konsumentin zur Unterschrift übergebenen und auch in diesem Gerichtsverfahren vorgelegten Urkunden enthalten gar keine expliziten Hinweise darauf, dass die MEL-Zertifikate als Wertpapiere zu qualifizieren sind, bei welchen der Kapitalverlust drohen kann. Soweit das Beratungsprotokoll auf eine besondere Risikobereitschaft der Konsumentin verweist, ist es in sich - wie im Urteilstext ausführlich dargestellt – widersprüchlich ausgefüllt. Hieraus kann die beklagte Partei jedenfalls keine Argumente zu ihren Gunsten ableiten.

Dass aber gerade diese Zertifikate ihren Wünschen in Wahrheit gar nicht entsprachen, hätte die geschädigte Konsumentin auch bei sorgfältigem Studium aus den ihr vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen können. Zusammenfassend findet somit das Berufungsgericht auch auf Tatsachenebene keinen Grund, der MEL-Anlegerin ein Mitverschulden in diesem Falle anzulasten.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

LG St. Pölten 26.05.2011, 21 R 122/11s Klagevertreter:

RA Dr. Benedikt Wallner, Wien

Quelle:  www.verbraucherrecht.at/ 14.09.2011