Wie Wertpapierdepots zu Finanzmüllhalden werden: Die seltsame Rolle der österreichischen Banken bei der Pleite des Baukonzerns Alpine.
von Marcus Rohwetter

Diese Geschichte erzählt von einer seltsamen Häufung überraschender Zufälle. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand sie vor einem Jahr in Österreich, als der Baukonzern Alpine unter einem riesigen Schuldenberg kollabierte.

Es war die größte Pleite in der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Seither streitet man sich darüber, wer auf dem Schaden sitzen bleibt. Einige Banken sind ihre alpinen Sorgen noch kurz vor der Insolvenz zum großen Teil losgeworden. Seltsamerweise jedoch befinden sich diese Probleme nun in den Wertpapierdepots zahlreicher Kleinanleger. Was, wie die Finanzinstitute einstimmig beteuern, nichts miteinander zu tun habe. Sondern lediglich auf einen Zufall zurückzuführen sei.


Michael Poduschka glaubt nicht an Zufälle, und in diesem Fall schon gar nicht. Der Wiener Rechtsanwalt vertritt rund 400 Privatanleger, die sich von ihren Banken hintergangen fühlen. "Ich halte das für eine freche Entsorgungsaktion", sagt der Jurist. "Um sich selbst zu schützen, haben die Banken in Kauf genommen, dass ihre eigenen Kunden geschädigt werden. Das war ein klarer Interessenkonflikt." Noch ist der Fall zwar nicht völlig geklärt. Doch schon heute ist er über die Grenzen der Alpenrepublik hinweg bedeutsam. Alpine könnte sich nämlich als Musterbeispiel dafür entpuppen, wie Banken auf der ganzen Welt ihre Probleme zu den Problemen ihrer Kunden machen – und Wertpapierdepots in Finanzmülldeponien verwandeln.

Und das geht so.

Bis zur Insolvenz der Alpine Bau GmbH und ihrer Dachgesellschaft Alpine Holding im Juni vergangenen Jahres galt die Gruppe als ein Aushängeschild der österreichischen Wirtschaft. Der zweitgrößte Baukonzern des Landes hatte zahlreiche Firmenbeteiligungen im In- und Ausland erworben und war weltweit im Geschäft. In Singapur baute er Tunnel, in Tschechien Autobahnen und in Deutschland Wohnungen. Alpines Expansionsdrang war gewaltig, doch zahlreiche Aufträge konnten nur durch Dumpingpreise zustande gekommen sein. Jedenfalls berichtete der österreichische Kreditschutzverband (KSV) kurz nach dem Insolvenzantrag von "dramatischen Verlusten im Projektgeschäft" und davon, dass Alpine schon seit 2008 mehr als eine Milliarde Euro zur Finanzierung ihrer verlustbringenden Auslandsprojekte aufgewendet haben müsse. Das Geld hatte offenbar zu Teilen die Dachgesellschaft Alpine Holding besorgt und an ihre Bautochter weitergereicht. Übrig blieben rote Zahlen: Der KSV beziffert die Insolvenzmasse der Bautochter heute auf gut 100 Millionen Euro, denen aber rund drei Milliarden Euro offener Forderungen gegenüberstehen. Auch bei der Dachgesellschaft Alpine Holding entdeckte der Insolvenzverwalter bei Amtsantritt weitaus mehr Soll als Haben: Mehrere Hundert Millionen Euro Schulden, aber "nur 7000 Euro" freies Vermögen. Der Gegenwert eines Gebrauchtwagens.
Rund 7.500 Privatanleger haben Anleihen der Alpine gezeichnet

Und diese Schulden sollen zustande gekommen sein, ohne dass jemand etwas gemerkt hat? "Die Probleme bei der Alpine waren für die Banken vorhersehbar", glaubt Rechtsanwalt Poduschka. "Wenn eine Bank bei einem Schuldner 80 oder 100 Millionen Außenstand hat, weiß sie normalerweise alles über den Schuldner. Deshalb wurden 2008 auch die Kreditlinien bei der Alpine eingefroren."

Haben die Banken daraufhin einen Plan gefasst, ihre Risiken auf Kosten Dritter zu reduzieren? Für diese These gibt es ein paar starke Indizien.

In den drei Jahren vor der Insolvenz gab die Alpine Holding insgesamt drei Anleihen heraus – eine 2010, eine 2011 und eine im Mai 2012. Sie wollte sich damit bei Anlegern neues Kapital leihen. Begleitet wurden die Emissionen von der UniCredit Bank Austria, der Erste Group Bank, der Bank für Arbeit und Wirtschaft und Österreichische Postsparkasse (Bawag) sowie der Raiffeisen Bank International in jeweils wechselnder Zusammensetzung. Die Banken, von denen einige Kreditgeber der Alpine waren, verhalfen dem Baukonzern so zu insgesamt 290 Millionen Euro. "Abnehmer waren fast ausschließlich Privatanleger, die zumeist von ihrer Hausbank initiativ auf das Papier angesprochen wurden", sagt der Wiener Anlegeranwalt Benedikt Wallner, der zurzeit eine Sammelklage vorbereitet. Er geht von rund 7.500 Betroffenen aus, die durch die Zeichnung der Anleihe zu Gläubigern der Alpine wurden.

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Zweifel an der Bankenversion wecken Recherchen einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Spannend ist, was mit dem Emissionserlös passierte: Das eingesammelte Geld sollte zumindest teilweise verwendet werden, um bestehende Schulden abzutragen. Und zwar ausgerechnet solche, die Alpine bis dahin bei einigen der Banken hatte, die ihr bei der Verbreitung der Anleihe geholfen hatten.

Im Fall der Raiffeisen-Gruppe ist das sogar dokumentiert. Eine Fußnote in einem "Termsheet" genannten Handzettel der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich für die Alpine-Anleihe vom Mai 2012 belegt, dass die Befriedigung ihrer eigenen Interessen von vornherein beabsichtigt war: Die Raiffeisen Bankengruppe Oberösterreich (RBGOÖ) habe "ein besonderes Interesse an der erfolgreichen Platzierung der gegenständlichen Unternehmensanleihe", heißt es dort, weil "der Emissionserlös auch zur Abdeckung von seitens der RBGOÖ gewährten Finanzierungen dient." Und das bedeutet: Je mehr Anleihen die Bank an ihre Kunden weiterreichte, desto kleiner wurden ihre eigenen Forderungen gegenüber Alpine. Der Bank-Kredit wurde also Stück für Stück gegen einen Kleinanleger-Kredit ausgetauscht. Und damit ging nach und nach auch das Ausfallrisiko von der Bank auf die private Kundschaft über.

Einige Monate nach Ausgabe dieser dritten Anleihe kamen Gerüchte über die desolate Lage bei der Alpine auf, und nach rund einem Jahr war der Baukonzern offiziell am Ende.

Alpine betont auf ihrer Internetseite, in den Emissionsprospekten auf alle damals bekannten Risiken hingewiesen und das Anlegerpublikum "zu jeder Zeit im vollen Umfang" informiert zu haben. Bei Raiffeisen weist man heute den Vorwurf zurück, die Wertpapierdepots von Privatanlegern benutzt zu haben, um sich selbst zu retten. Ein Sprecher teilte mit, dass man Kunden gegenüber das Eigeninteresse der Bank an der Rückzahlung von Darlehen stets offengelegt und sich ebenso sorgfältig wie korrekt verhalten habe. Zum Zeitpunkt der Zeichnung der Anleihe 2012 habe man "keinerlei Hinweise auf eine möglicherweise angespannte wirtschaftliche Situation" von Alpine gehabt.

Dieser Logik zufolge muss es ein unvorhersehbarer Zufall gewesen sein, dass der Baukonzern bald darauf kollabierte. Dumm gelaufen für die Anleihe-Käufer. Und ein echter Glücksfall für die Raiffeisen-Gruppe, die kurz zuvor noch etwas von ihrem eigenen Geld in Sicherheit bringen konnte.

Das kann man glauben. Muss man aber nicht.

Zweifel an der Bankenversion wecken die Recherchen der Wiener Wirtschaftsprüfungsgesellschaft 7TC, die im vergangenen Sommer ein Gutachten zu dieser Frage erstellt hat. "Der Eindruck hat sich seither verstärkt, dass es sich um eine Bankenumschuldung 2.0 gehandelt hat", sagt Gutachter Manfred Biegler heute und schlussfolgert: "Die Banken haben ihr Kreditrisiko, dem keine nennenswerten Sicherheiten gegenüberstanden, in Kenntnis der wirtschaftlichen Probleme der Alpine auf Anleihe-Zeichner und mittelbar über Bundeshaftungen dem österreichischen Steuerzahler übertragen."

Die ganze Wahrheit herauszufinden wird Österreich wohl noch über Jahre beschäftigen. Im ganzen Land laufen Zivilprozesse und teilweise auch strafrechtliche Ermittlungen. Mal dreht es sich um Banken, mal um frühere Manager von Alpine, mal um die spanische Holding FCC, die ihrerseits als Muttergesellschaft der Alpine-Gruppe fungierte. Auch der österreichische Staat ist in Prozesse verwickelt, weil er Garantien für Bankkredite übernommen hatte. Dass Alpine selbst oder ihre Wirtschaftsprüfer sauber gearbeitet haben, wird ebenfalls bezweifelt, wenngleich beide den Vorwurf bestreiten. Aber natürlich könnten die Banken, die eine Zeit lang versucht haben, Alpine zu retten, ja auch ihrerseits getäuscht worden sein.

Könnte so gewesen sein.

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Auch langjährig erfolgreiche Unternehmen weisen schlechte interne Ratings auf

Doch beim Handelsgericht Wien führt Rechtsanwalt Poduschka seit Kurzem einen Prozess, der die Finanzindustrie noch stärker in Erklärungsnot bringt. Im Zentrum steht die Bawag. Sie war als Konsortialführer an der Konstruktion der ersten und dritten Alpine-Anleihe beteiligt.

Die Bawag half auch beim Vertrieb. Wie der Geschäftsführer einer Firma aus Steyr in der Klage ausführt, habe ihn eine Wertpapierberaterin im Mai 2012 angerufen und ihm die Alpine-Anleihe empfohlen. Die Schuldverschreibung sei eine gute Geldanlage, habe sie ihm gesagt. Daraufhin habe er andere Wertpapiere verkauft und für sein Unternehmen rund 150.000 Euro in Alpine-Anleihen investiert.

Kann eine Schuldverschreibung sicher und zur gleichen Zeit wertlos sein?

Nur wenige Wochen später hatte der Geschäftsmann wieder mit der Bawag zu tun, diesmal mit der Kreditabteilung. Er wollte privat ein Darlehen aufnehmen und bot der Bank die frisch erworbenen Alpine-Anleihen als Sicherheit an. Plötzlich sei von der vermeintlichen Qualität der Papiere keine Rede mehr gewesen, heißt es in der Klage. Ganz im Gegenteil: Anleihen der Alpine akzeptiere die Bawag "nicht als Sicherheit", habe ihm der Kreditberater entgegnet. Der Beleihungswert der Papiere betrage angeblich "null" Euro.

Die Bawag betonte gegenüber der ZEIT, sie habe erst im Oktober 2012 von der desolaten Lage der Alpine erfahren, und verweist auf deren uneingeschränkt bestätigte Jahresabschlüsse von 2008 bis 2011. Auch seien Erlöse aus der Anleiheemission nicht verwendet worden, eigene Kredite an die Alpine zurückzuführen. Im Fall des Steyrer Geschäftsmanns habe die Bawag die Anleihen deswegen nicht als Kreditsicherheit akzeptiert, weil dieser die Papiere für sein Unternehmen erworben habe, den Kredit aber als Privatperson aufnehmen wollte. Das sei rechtlich nicht zulässig.

Aus der Klageerwiderung der Bawag-Anwälte an das Gericht geht aber noch mehr hervor. Die Bank hat den Beleihungswert der Anleihen nämlich sehr wohl überprüft und mit null bewertet – was allerdings keine Aussage über die Qualität der Geldanlage sei. Die schlechte Bewertung habe mit einer "üblichen Vorgehensweise" und "besonders strengen Anforderungen" zu tun, die grundsätzlich an Kreditsicherheiten gestellt würden und mit denen Banken die ihnen anvertrauten Sparguthaben schützen wollten. "Zahlreiche, auch namhafte und langjährig erfolgreiche Unternehmen weisen schlechte interne Ratings auf", erläutern die Bankanwälte.

Man darf das wohl so interpretieren: Erstens kann in der Finanzwelt eine Schuldverschreibung super sicher und völlig wertlos sein – und zwar gleichzeitig. Zweitens hängt das davon ab, wer das Risiko eines Zahlungsausfalls trägt. Und drittens muss es ein Zufall gewesen sein, dass es in diesem Fall einen Privatanleger und nicht die Bank selbst getroffen hat.

Wenn es denn ein Zufall war.

Quelle: DIE ZEIT Nº 22/2014 1. Juni 2014  18:12 Uhr