Wenn Regierungen und Parlamente regelmäßig ignorieren, was sie beschlossen haben, und gegen nationale Gesetze und internationale Verpflichtungen verstoßen, gibt es nur eines: die Gerichte. Unmittelbar abschreckend wirkt bis auf Weiteres nur eines: wenn es für die Beklagten in Klimaprozessen richtig teuer wird.  (Die ZEIT Nr. 44 vom 28.10.2021 Seiten 4, 5)

Wer niemals in einer WG gelebt hat, kann die Verzweiflung im Ringen um das Einhalten gemeinsamer Ziele nicht verstehen. Zutreffend vergleicht daher Michaela Krömer den Vertrag von Paris mit dem Putzplan einer Wohngemeinschaft: „Wie bei einem Putzplan verpflichtet sich hier jeder selbst. Wenn eine Partei ihre Arbeit nicht macht, haben die anderen keine wirksamen Mittel, um gegen untätige Mitbewohner vorzugehen.“ Und sie kommt zu dem Befund, wir hätten kein Recht auf Klimaschutz.

Ganz so trostlos ist es allerdings nicht. Sogenannte Klimaklagen schießen überall auf der Welt wie Schwammerl aus dem Boden, wenngleich noch am wenigsten im prozessualen Entwicklungsland Kerneuropa mit seiner religiösen Ablehnung von Sammelklagen und Strafschadenersatz (punitive damages). Sam Varvastian berichtet uns mehrmals wöchentlich auf Twitter über spektakuläre Fortschritte wie zuletzt die Beschwerde der portugiesischen Kinder Youth for Climate Justice v. Austria, et al. gegen 33 europäische Regierungen auf Einhaltung der Pariser Klimaziele vor dem EGMR. Übrigens ein billiger und relativ einfacher Weg, verglichen mit einer „echten“ Klage. Auch solche gibt es zuhauf, die London School of Economics nennt derzeit 425 an der Zahl.

Während sich prozessrechtliche Fragen in Kerneuropa noch um Themen drehen, die man besser schon im vorigen Jahrhundert gelöst hätte, wie zB, ob ein globaler Hersteller von Massengütern eh im Heimatstaat des Käufers verklagt werden kann, ist uns die internationale Kollegenschaft Meilen voraus. Jüngst erst, am 26. Februar, hat Tschechien eine Klage gegen Polen vor dem EuGH eingebracht wegen dessen geplanter Ausweitung des Braunkohletagebaus im Grenzgebiet. Am 3. Februar verklagten Greenpeace und andere Aktivisten das taiwanesische Wirtschaftsministerium auf Einhaltung der lokalen Klimagesetzgebung. Am 27. Januar gab der Europäische Gerichtshof der Londoner NGO ClientEarth recht gegen die Europäische Investitionsbank EIB und die Europäische Kommission (!), die bis dahin gemeint hatten, es sei allein ihre Sache, ob sie ein 50 MW Biomassekraftwerk mit einem € 60 Mio Kredit unterstützen oder nicht. Und seit Juli des Vorjahres klagt der Staat Israel Volkswagen, Audi, Bosch und den Generalimporteuer vor dem Bezirksgericht Tel Aviv auf € 131,4 Mio Schadenersatz wegen 3.881 Tonnen giftigen NOx, die ohne Abgasbetrug nie in Israel emittiert worden wären. Eine Klage wie diese könnte übrigens auch der Staat Österreich sofort einbringen, auch jede größere Gebietskörperschaft (die Stadt Wien hat daran aber kein Interesse), schwer ist es auch nicht mehr, denn die Fakten liegen nach tausenden Prozessen hier ebenso auf dem Tisch wie die Auslegung grundlegender Rechtsfragen. Also, am fehlenden Recht liegt es nicht.

An den Gerichten auch nicht: Schon seit 1996 urteilt der EuGH, dass auch die einzelnen Bürger sich vor Gericht darauf berufen können, wenn die Union die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten, zB zur Luftreinhaltung, verpflichtet hat, und dass die nationalen Gerichte die Richtlinien als Bestandteil des Unionsrechts berücksichtigen müssen. Andernfalls, so der Gerichtshof, würde nämlich „die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt“ (Entscheidung C‑723/17 vom 26. Juni 2019, Rz 34).

Und derlei Regularien zum Klimaschutz gibt es viele:

  • Etwa die VO (EU) 2020/85, die Kapitalflüsse hin zu nachhaltigen Investitionen lenkt. „Greenwashing“ ist seither definiert – und verboten. Wie immer müssen die Maßnahmen und Sanktionen gegen Verstöße „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“. Follow the money taugt ja als Faustformel nicht nur für Korruptionsermittler; auch das Übereinkommen von Paris (Art 2 Abs 1 lit c) verfolgt seine Ziele u. a. dadurch, Finanzmittelflüsse mit einer emissionsarmen und klimaresilienten Entwicklung der Treibhausgase in Einklang zu bringen.
  • In Art 15 Abs 3 lit b der VO (EU) 2018/1999 sind die Strategien der Mitgliedstaaten und der Union zur Verwirklichung des Ziels des Übereinkommens von Paris festgeschrieben, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
  • Schon vor „Paris“ hat die RL 2009/28/EG verbindliche Maßnahmen zur Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen festgelegt, die bis 2020 mindestens 20 % des Bruttoendenergieverbrauchs betragen musste (Art 3). Das hat zwar nicht ganz geklappt (18,9 % waren es 2020 im EU-Schnitt). Nur einige Länder, darunter die skandinavischen mit 50 % und mehr, erreichten das Ziel. Aber es wäre einklagbar gewesen, und das neue Ziel von 32 % bis 2030 gemäß RL (EU) 2018/2001 sollte mit dieser Rute im Fenster schon erreichbar sein.

Ob man nun verbindlichen Regularien das Wort redet, damit sich die Industrie im Wettbewerb danach richten kann, oder meint, die Industrie mache nichts freiwillig, ist einerlei: Die Gesetze gibt es, was fehlt ist ihre abschreckende Anwendung.

„Da versucht eine Anwältin mit einer absurden Klage, Geld und/oder Anerkennung zu erzielen“, lautete ein Posting unter Krömers Beitrag. Das jedoch nicht bedenkt, dass Recht ständig der Transformation unterliegt, und dass vieles, was wir heute zur Rule of Law zählen, den Zeitgenossen erst einmal absurd erschienen war. MaW, den Putzplan haben wir. Now let justice be done.

Benedikt Wallner ist als Rechtsanwalt in Wien auf Schadenersatz in Massencausen spezialisiert, darunter gegen VW und Daimler.

Umweltklagen

  • Grafik: Lorin Wallner